Ich lebe nun seit fast 15 Jahren in Marokko und hatte es bis vor kurzem vermieden den Ramadan in meiner Wahlheimat in Marokko zu verbringen, eine Entscheidung die ich aufgrund allgemein kursierender Vorurteile vor allem von Nicht Marokkanern gefällt hatte und die ich nachträglich bereue.

Ich hatte die vorherrschenden Klischees, dass man  während des Ramadan in Marokko als nicht-Muselmann nicht leben könnte, weil nichts richtig funktioniert unhinterfragt hingenommen, musste mich jedoch  eines ganz anderen belehren lassen.

Der Ramadan 2023 wurde für mich auf der sozialen, der physischen und der psychischen Ebene zu einer Erfahrung, die ich nicht mehr missen möchte. Darum habe ich einiges von dem festgehalten was mir wichtig geworden ist um es mit meinen Freunden teilen. Ich meine damit nicht nur meine Freunde aus Europa und der Welt, sondern auch meine Muslim-Freunde, denen mein Erfahrungsbericht und meine Reflexionen durchaus helfen kann, ihre eigenen Traditionen noch mehr zu wertschätzen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich an dieser Stelle ganz herzlich bei alle meinen Marokkanischen Freundinnen und Freunden zu bedanken, die mir während des Ramadans ihre wunderbare Gastfreundschaft und Unterstützung geschenkt haben.

Als Europäer können wir uns kaum vorstellen dass ein Land beziehungsweise ein ganzes Volk einen Monat lang nach einem komplett anderen Rhythmus lebt, dass man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang  weder ißt noch trinkt, dass die Öffnungszeiten von Banken, Ämtern, Museen etc. verkürzt werden und dass kurzfristig – so geschehen ein Feiertag eingeführt wird.

Man stelle sich vor das in so gut wie  jeder Familie an 28 Tagen hintereinander abends „Heiligabend“ mit einem üppigen Menü gefeiert wird. Man stelle sich vor dass  weit über 90 % aller Bürgerinnen und Bürger sich in dieser Zeit intensiv religiösen Praktiken zuwenden, verstärkt die Moscheen besuchen, den gesamten Koran hören und die Predigt in der Imame lauschen und ehrlich versuchen ein gottgefälligeres Leben zu führe und gutes zu tun.  Der Tagesrhythmus im ganzen Land nimmt eine ganz eigene Dynamik an. Am Morgen dauert es sehr lange ist das Leben auf den Straßen in die Gänge kommt. Nie kann man so ungestört durch die Städte schlendern so unbehelligt vom Lärm und Qualm der Motorroller als im Ramadan. Tagsüber  läuft alles deutlich gemächlicher als außerhalb des Ramadan und viele Geschäfte öffnen nur unregelmäßig. Dann, etwa eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang bricht in der Stadt das Chaos aus. Eine Rushhour  wie man sie sonst kaum erlebt bricht los. Kein Taxis ist zu bekommen und jeder versucht noch irgendwie bis zum Fastenbrechen in den Hafen der Familie einzulaufen. Wenn irged möglich sollte man es vermeiden sich jetzt in den Verkehr zu stürzen, denn der Stress, gepaart mit der Schlappheit durchs Fasten und die erniedrigte Aggressionsschwelle vor dem Fastenbrechen kreieren häufig gefährliche Situationen im Straßenverkehr. Man muss ständig mit allem rechnen. Rd grenzt an eine Wunder dass nicht mehr passiert. Mit dem Ruf des Muezzins nach Sonnenuntergang scheint das öffentliche Leben plötzlich zum Erliegen zu kommen und die Stadt scheint plötzlich wie  ausgestorben. Kein Auto fährt mehr auf den großen Boulevards und für 1 Stunde ist es totenstill. Die Familien sitzen beieinander zum Iftar. Umso lauter und turbulenter wird es dann 1 bis zwei Stunden nach Sonnenuntergang,  nach dem letzten Gebet. Jetzt machen die Läden auf, die Straßen füllen sich mit Menschen und häufig steht man bis nachts um vier, bis zum Ruf des Muezzins, im Verkehrsstau. Niemand scheint zu schlafen. Nach dem Morgengebet vor Sonnenaufgang ist der ganze Spuk dann wieder vorbei und die Stadt fällt zurück in einen Dornröschenschlaf.

Es ist eine Zeit in der man kollektiv fastet und die selben körperlichen und psychischen Entbehrungen erlebt, besonders Hunger Durst und Kopfweh in den ersten drei Tagen. Täglich fiebert man  gemeinsam auf das Fastenbrechen hin, indem man in intensiven Austausch mit Freunden und Familienmitgliedern steht und versucht so viel Gutes als möglich zu tun. Nach meiner Erfahrung bestimmt der Ramadan das soziale System und die Familienstrukturen in einem Maße das wir uns als Europäer gar nicht vorstellen können. Ich habe die Menschen in meiner Wahlheimat immer schon als gastfreundlich, großzügig und äußerst herzlich er liebt. Im Ramadan durfte ich erfahren dass es hier noch eine Steigerung gibt. Besonders als meine Freunde mitbekamen dass ich selbst ernsthaft den Ramadan praktizierte wurde mir sehr viel Respekt entgegengebracht und noch viel mehr Liebe, Herzlichkeit und Fürsorge.

Ich selbst habe den Ramadan diesmal konsequent mit mitgemacht, d.h. von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder gegessen noch getrunken und mir selbst auch Zeit genommen für Meditation und Gebet.

Ich selbst faste seit meiner Jugend mindestens einmal im Jahr für eine Woche bis zu zehn Tagen komplett. Allerdings trinke ich immer viel und habe bisher die Praktik des Ramadan mit dem „Intervall-fasten“ ohne Trinken aus medizinischen Gründen abgelehnt da ich dem allgemeinen Dogma der westliche Medizin gefolgt bin, man müsste mindestens dreieinhalb Liter Wasser am Tag trinken besonders wenn man in heißen Ländern lebt um die Nieren nicht zu schädigen. Eine der überraschendsten Erfahrungen war für mich dass ich nach drei Tagen in denen ich allerdings ziemliche Kopfschmerzen hatte  – wie übrigens so gut wie alle anderen meiner Freunde – keinen Durst mehr hatte und den ganzen Tag ohne Wasser auskommen konnte. Für mich war auch die Erfahrung des Fastenbrechens am Abend, des Iftar ein sehr aufschlussreicher Prozess. An den ersten Abenden stürzte ich mich nach dem Ruf des Muezzins aufs Essen und trank eine Menge Wasser mit der Folge dass ich in der Nacht vor lauter Völlegefühl nicht schlafen konnte. Am dritten Tag nahm mich ein Freund beiseite und erklärte mir, das man beim Fastenbrechen diszipliniert vorgehen müssen. Eine oder drei Datteln und ein Glas Wasser oder Tee oder etwas Zitronensaft signalisieren im Körper dass er nun wieder auf Nahrungsaufnahme umstellen kann.  Danach folgt das kurze Abendgebet mit den üblichen Niederwerfungen die man durch aus auch als kleine Gymnastik betrachten kann. Erst danach gibt es die eigentliche Mahlzeit mit der Harira,  d.h. der Suppe aus Hülsenfrüchte und Nudeln Gemüse und manchmal etwas Fleisch, mit Datteln und Chabackiya dem süßen Gebäck und Silo einem Granulat aus Feigen, Datteln Mandeln,  Nüssen und Getreide. In den meisten Familien wird danach reichlich weiter aufgetischt. Die Berber essen dann noch Unmengen an „Berberpizza“, einer Art flachen Calzone mit Gemüse und Fleischfüllung danach gibt es selbstredend noch Hauptgerichte, reichlich Tee, Leben (Buttermilch) Früchte  und  häufig Zitronensaft.

Die Nacht während des Ramadans ist für die Muslime relativ kurz denn schon gegen 4:00 Uhr ruft der Muezzin zum Morgengebet. Es gibt ein kleines Frühstück mit Tee, Datteln und Messmen (marokkanischen Blätterteigcrepes).  Nach dem Morgengebet, wenn die Sonne aufgeht ruht man sich weiter aus insofern man es sich leisten kann. Der Tagesablauf gestaltet sich für die Marokkaner erstaunlich unterschiedlich. Ich habe schwer arbeitende Handwerker und Maurer am Bau beobachtet ebenso wie Taxifahrer die ganz normal arbeiten ohne zu essen oder zu trinken. Aber auch Menschen  – besonders in den ländlichen Gebieten – die den Tag eher ruhig angehen und kaum einen Finger rühren und eher lethargisch im Schatten einer Palme „abhängen“. Wenn ich am Abend mit meiner Gruppe im Wüstencamp ankomme läuft man uns normalerweise schon winkend entgegen und schleppt die Rucksäcke in die Zelte. Während des Ramadans erheben sich die Mitarbeiter des Biwaks nur langsam von ihrem Decken im Schatten und lassen die Ankommenden das Gepäck auch schon mal selbst tragen. Auch auf den Begrüßungstee wartet man deutlich länger als sonst. Eine wichtige Erfahrung für mich war es, in Verständnis und Toleranz zu wachsen und die kleinen Pannen zu übersehen und zu verzeihen, die sich einschleichen wenn man beim Fasten körperlich und psychisch ermattet. Buchungsanfragen in Hotels oder der Mailverkehr mit dem Steuerberater oder der Versicherung bleiben häufig unbeantwortet oder verschwinden  schon  mal  im „Nirwana“. Persönlich war es für mich dennoch eine gute Erfahrung: Es muss nicht immer alles sofort erledigt werden. Der Ramadan entschleunigt also auch mein eigenes Leben wenn ich mich darauf einlasse. Mehr noch als zu Normalzeiten gilt jetzt das „Inschallah“ – so Gott will und das die Marokkaner ohnedies so gut wie jeder Aussage hinzufügen. Dem Europäer bleibt besonders während des Ramadans nur die Alternative sich auf das Inschallah einzulassen oder in Weißglut zu verfallen. Ich habe mich für ersteres entschieden und bin gut damit gefahren. Der Europäer, der in Marokko ein Unternehmen hat bzw. mit Marokkanern zusammenarbeiten muss täte gut daran, selbst den Ramadan mitzumachen. Ich habe wiederholt gute Bekannte während des Ramadans sehr ungehalten und gestresst erlebt, da die Einheimischen eben den Ramadan-Rhythmus lebten und nicht mit der vollen Arbeitskraft zur Verfügung standen und sich auch nicht aus der ruhe bringen ließen. Durch meine aktive Teilnahme am Fasten konnte ich jedoch ein Gespür dafür entwickeln wie es den Leuten geht und was man den Mitarbeitern zumuten kann. So lief mein eigener Betrieb reibungslos und stressfrei. Ich bin dazu übergegangen wichtige Dinge eher auf die Zeit nach dem Zuckerfest zu verschieben.

Mir selbst fiel das Fasten von Tag zu Tag leichter und ich spürte dass mein Bedürfnis zu essen und zu trinken mit der Zeit sogar abnahm. Ich hatte das Gefühl als würde mein Magen täglich ein wenig schrumpfen. Am Ende des Ramadans fühlte ich mich wie neugeboren und hatte tatsächlich auch einiges an Gewicht verloren. Während des Ramadan arbeitete ich täglich und ich lebte quasi wie ein Nomade, denn ich war  stets mit Gästen unterwegs. So durfte ich das Fastenbrechen täglich mit den Familien und Angestellten in den Unterkünften teilen wo wir nächtigten. Stets würde ich zum Fastenbrechen eingeladen und auch meine Mitreisenden wann häufig dabei. Auf diese Weise durfte ich die unterschiedlichsten Gewohnheiten des Fastenbrechens erleben. – vom ganz einfachen Mal bestehend aus Datteln, Wasser Tee, Ei, Süßigkeiten und Berber-Pizza bis hin zum opulenten Festessen.

Meine nicht marokkanischen Freunde fragen mich immer wieder, warum man in Ramadan untertags weder ißt noch trinkt. Angesichts des Intervallfastens, das bei uns in Europa in Mode gekommen ist, verstehen die Europäer das Prinzip des Ramadan durchaus. Aber es ergeben sich immer wieder Bedenken bezüglich der mangelnden Flüssigkeitszufuhr. Abgesehen von meiner eigenen Erfahrung dass sich das Durstgefühl nach drei Tagen von selbst legt und dass ich durchaus ohne körperliche Schäden den Tag ohne Trinken überstehen kann, gibt ein Blick auf die Lebenswelt des Propheten Mohammed – ALLAH möge ihn segnen -, eine mögliche Antwort auf die Frage weswegen man auch aufs Trinken verzichtet.

Mohammed war  Karawanenführer zwischen Medina und Damaskus und somit ein Sohn der Wüste. Der Ramadan ist ein ideales Training das den Körper für Extremsituationen rüstet, die sich in der Wüste immer wieder ergeben können. So kann es durchaus vorkommen dass man längere Zeit ohne Wasser auskommen muss oder auch ohne Essen. Ich staune immer wieder über die Kondition meiner marokkanischen Fahrer oder Führer, die auch außerhalb des Ramadan nicht ständig an der Wasserflasche hängen und sich sehr gut auf den Rhythmus der Reisenden einstellen können, während die Touristen beständig Durst haben und literweise Wasser trinken. Der Ramadan mag durchaus ein psychophysisches Überlebenstraining für die Wüstenvölker gewesen sein.

Neben den sozialen, psychischen und physischen Erfahrungen hat mir meine Teilnahme am Ramadan auch spirituelle Erkenntnisse geschenkt. Ich durfte erleben wie selbst marokkanische Freunde, die ich bis dato nicht für besonders religiös eingeschätzt hatte, sich während des Ramadans plötzlich sehr positiv veränderten und sich für philosophische und religiösen Themen offen zeigten. Häufig hatte ich tiefschürfende Gespräche zu denen es außerhalb des Ramadan vermutlich nie gekommen wäre. Ich hatte den Eindruck, während des Ramadans einzutauchen in einen Resonanzraum, die man sich als Muslim oder Marokkaner gar nicht entziehen kann, der in vielerlei Hinsicht einen positiven Einfluss auf die Menschen hat. Besonders beeindruckt hat mich eine gängige Praxis, die am Ende des Ramadans stattfindet: Eine der fünf Säulen des Islam ist der Zakat, das Almosengeben. Da der Ramadan mit dem Zuckerfest endet, an dem niemand hungern soll, ist es für die Marokkaner ein ungeschriebenes Gesetz, dem sich aber alle verpflichtet fühlen, den Armen aus der Familie oder der Nachbarschaft rechtzeitig vor dem Zuckerfest einen Geldbetrag zukommen zu lassen der ihnen die Einkäufe für das Zuckerfest ermöglicht. Dieser Betrag wird sogar jährlich von einem staatlichen Gremium festgesetz.  Er richtet sich nach dem Getreide- und Zuckerpreis. Im vergangenen Jahr waren es noch 14 Dirham pro Angehörigem der bedürftigen Familie. Aufgrund der enormen Preissteigerungen bei Lebensmitteln seit dem Ukrainekrieg wurde der Betrag 2023 auf 20 Dirham festgesetzt. Für die Marokkaner ist es einen Selbstverständlichkeit, den Zakat zu geben. Es ist ein eindrucksvolles Beispiel für Solidarität und dafür wie ein Sozialsystem mit religiösen Wurzeln sich heute noch von der Basis her organisiert. Ich habe ein Jahr in Indien verbracht und dort ganz Anderes erlebt: Ich musste oft beobachten wie der reiche Brahmane an einem verhungernden Bettler vorbeiging und ihm herzlos erwiderte: „Its your Karma“. Wegen des Zakat, der tief im islamischen Selbstverständnis verwurzelt ist würde in Marokko nie ein Mensch verhungern. Soziale Verantwortung wird nicht wie zunehmend in Europa auf den Staat abgewälzt, sondern sie wird an der Basis wahrgenommen und verwirklicht.

Zu guterletzt noch eine Bemerkung für alle, die sich mit dem Gedanken tragen im Ramadan nach Marokko zu reisen. Besonders in den nächsten Jahren fällt ihr der Ramadan in die Frühlingssaison, d.h. die beste Reisezeit. Meine Erfahrung und die der Gruppen, die ich im Ramadan begleiten durfte, war durchweg überraschend und positiv. Mitnichten gab es nichts zu essen. Man fand überall ein Restaurant und auf dem Land konnten wir uns ab und an mal mit einer Brotzeit mit Brot, Käse, Wurst und frisches Obst in herrlichen Landschaften behelfen. Es hat nie irgend jemandem an etwas gefehlt. Während des Ramadans sind darüber hinaus deutlich weniger Touristen im Land, was sich natürlich auf die Qualität des Reisens positiv auswirkt. Es bedeutet weniger Warteschlangen an den Hauptsehenswürdigkeiten und noch größere Offenheit, Achtsamkeit und Gastfreundschaft in den Unterkünften. Auch die Händler in den Märkten wie zum Beispiel in Marrakesch sind deutlich weniger oder sogar überhaupt nicht mehr aufdringlich und niemand versucht einen übers Ohr zu hauen. Sogar die Taxifahrer sind in den meisten Fällen ehrlich und zocken die Touristen nicht ab wie sonst. Also meine klare Empfehlung: reisen Sie im Ramadan nach Marokko!

Ich selbst freue mich schon sehr darauf, den nächsten Ramadan mit meinen Freunden in Marokko erleben zu dürfen.