Marrakesch wirklich verstehen – Einblicke, die Touristenführer nicht geben

Marrakesch, die „Rote Stadt“ ist im Gegensat zu Casablanca, der „weißen Stadt“ ist keine gewachsene Stadt, sondern eine vor fast 1000 Jahren von Städteplanern wohlüberlegt am Reißbrett entworfene Berbermetropole, die sich mit ihren erdfarbenen Häusern perfekt in die Halbwüstenlandschaft der Harouzebene einpasst. Noch heute ist diese Struktur fast unverändert vorhanden und die Stadt „funktioniert“ noch immer nach denselben Prinzipen.

Wie ist die Stadt aufgebaut und wie funktioniert sie?

Die Städtebauer der Almoraviden und Almoharden zogen schon im 11, und 12. Jahrhundert eine 19km lange Stadtmauer rund um die Stadt, die bis heute lückenlos erhalten ist. In der Mitte legte man einen riesigen Versammlungsplatz an, die Jemaa el Fna, den Ort wo noch heute das Herz Marokkos schlägt. Dort treffen und amüsieren sich an 365 Tagen im Jahr die Einheimischen bei Schlangenbeschwörern, Märchenerzählern, Akrobaten, Tänzern und Musikern. Die Touristen sind hier in der eindeutigen Minderzahl. Wo viele Menschen sind braucht es natürlich auch etwas zu Essen. So werden auf dem Platz nicht nur Ess- und Saftstände täglich auf- und abgebaut, sondern man findet eine kleine “Fressgasse“, wo seit Anbeginn täglich große Lehmöfen in der Erde befeuert werden, in denen bis zu 20 Lämmer und Schafe garen. Es ist die

Lieblingsspeise der Marokkaner, „Mechoui“, ein Festtagsessen. Vermutlich sind es die ältesten durchgehend existierenden “Restaurants“ der Welt. Rings um den Platz herum schließen sich die Suks an, die großen Basare, wo man das einkauft, was man nicht jeden Tag erwirbt wie Kleidung, Schuhe, Taschen, Schmuck, Geschirr etc. an den Ausgängen und zentralen Stellen der Suks sind kleine Plätze oder Straßenverbreiterungen angelegt, wo die „Transporteure“ mit Hand- und Eselskarren und manchmal sogar mit Töftöfs darauf warten, die Waren, die die Marrakschis im Suk gekauft haben in die Riads zu liefern. Am größten Platz im Suk der Rahba Khedima, in der Nähe des ehemaligen Sklavenmarktes, sitzen seit Gründung der Stadt die Hennafrauen, die ganz unbemerkt von den Touristen Berge von Hennapulver in ihren Mörsern stampfen. Noch heute kaufen die Marrakschis, die etwas auf sich halten, hier das Henna für die aufwändigen Hochzeitstattoos.

Um den Ring der Suks herum gruppieren sich die Quartiers, die vielen Wohnviertel mit jeweils völlig unterschiedlichen Flair, Geruch, Bevölkerung und sozialen Niveaus. Das reicht vom Königsviertel (Kasbah) bis zum Gerberviertel. Diese Viertel haben dörflichen Charakter. Kein Haus besitzt mehr als zwei Stockwerke, die fast immer von einer Terrasse gekrönt sind, von der aus man meist einen Blick über die gesamte Stadt hat.

Zwischen den Vierteln gibt es nur wenige durchgehende Verbindungsstraßen. Für Autos wurden diese Straßen seinerzeit jedoch nicht gebaut. Allenfalls die Mopeds knattern heute zum Leidwesen der Fußgänger durch diese Lebensadern. Die Viertel wiederum sind abgeschlossene Verwaltungseinheiten, lebendige Organismen mit Organen und Organellen: So gibt es in jedem Viertel einen Markt, der sieben Tage die Woche von morgens bis abends geöffnet ist. Hier kauft man frisches Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch. Jedes Viertel besitzt seine eigenen Moscheen, Koranschulen und öffentliche Brunnen. Es gib noch immer Häuser, ohne fließendes Wasser. Darum findet man auch in jedem Sektor öffentliche Brunnen. Wasser ist seit jeher sehr kostbar in Marokko. Darum wäscht man sich meist nur einmal in der gründlich im Hamam. Dennoch sind die Marokkaner sehr sauber, denn sie waschen sich täglich fünfmal rituell im Vorraum der Moscheen. Ein Liter Wasser genügt für die „Oudoue“. Jedes Viertel besitzt zahlreiche Hamams (öffentliche Bäder, die „Badezimmer“ vieler Familien, die heute noch immer kein eigenes Bad im Haus haben). Sie sind streng getrennt nach Männer und Frauen. Der „Farnatchi“, d.h. die Feuerstelle des Hamam dient zugleich als Kochplatz für die Tanjia, die Spezialität Marrakeschs, ein „Gulasch im Tonkrug“ das die Frauen hierher zum Garen bringen. Außerdem trifft man immer wieder auf immer öffentliche Backöfen, in die die Frauen ihr Brot zum Backen tragen. Schließlich darf das Büro des Moquadams, des Quartiervorstehers nicht fehlen, der jeden kennt und als unangefochtene Autorität alle Nachbarschaftskonflikte, Verwaltungs- und Bauaktivitäten im Blick hat und unbürokratisch regelt. Von der Hauptstraße des Quartiers zweigen unzählige Gassen ab, die in die Derbs (zusammenhängende Häuserzeilen) führen. Sie verästeln sich wie ein Baum und haben meist nur einen einzigen Zugang. Über jedes Derb wacht in der Nacht ein Nahtwächter, der von den Bewohnern solidarisch finanziert wird. So kann man sich selbst in der Nacht überall gefahrlos bewegen und sicher zu seinem Riad zurückkehren. Über 90% der Gassen in der Medina sind Sackgassen. Das machte die Stadt in der Vergangenheit quasi uneinnehmbar und bereitet dem Ortsfremden auch heute noch große Probleme bei der Orientierung. Es existieren so gut wie keine direkten Wege. Maximal 100 Meter im Umkreis der Wohnhäuser gibt es eine oder mehrere „Boutiquen“, „Tante Emma Läden“ wo man etwa 90% von dem kaufen kann was man fürs tägliche Leben braucht. Das Sortiment reicht vom Wc-Papier über Kugelschreiber, Olivenöl, Nudeln, Salz, Zucker, Zahnpasta, Kaffee, Tee, Yoghurt, Milch bis zu Softdrinks, frischem Fladenbrot und Damenbinden. Hier findet man – gut zu wissen für die Touristen in dieser Stadt – immer auch Waser in halb- und 1,5-Liter Flaschen, gekühlt und ungekühlt. Die Boutiquen haben geöffnet solange Menschen auf der Straße sind.

Die Häuser in den Derbs sehen fast alle gleich aus. Sie besitzen kaum Fenster nach außen. Selbst die Türen ähneln sich und verraten nichts über den Wohlstand oder sozialen Status der Bewohner. Selbst wenn man das Privileg hat, durch eine der Türen eingelassen zu werden sieht man zunächst kaum etwas vom Haus. Man tritt in einen dunklen Gang ein und der führt in einen Innenhof, in dem es eine Brunnen und Pflanzen gibt und in dem Vögel singen. Alle Räume öffnen sich auf den Patio und der wiederum öffnet sich auf den Himmel. Hier ist es im Gegensatz zu den dichtbevölkerten und lauten Straßen und Plätzen angenehm still und kühl. Man nennt die Häuser Riads. Das bedeutet Paradies. Die Diskretion, Abgeschiedenheit ,Privatheit und Stille in diesen Häusern übertrifft alles was sich ein Europäer vorstellen kann. Dies ist die wahre Lebensqualität in Marrakesch. So lässt es sich in einer Großstadt angenehm leben. Die Riads sind Zufluchtsorte mitten im lauten und pulsierenden Leben der Großstadt. Die Riads besitzen zumeist eine Terrasse, die eher die Domäne der Frauen ist. Auch hier ist Diskretion das oberste Gebot. Man zeigt sich nicht auf den Dächern und hält auch kein Schwätzchen von Terrasse zu Terrasse. Wenn man eine Nachbarn oder Fremden auf der Terrasse sieht, wendet man sich diskret weg und tut als ob man sich nicht gesehen hat.

Die Stadt ist erstaunlich sauber. Seit 1000 Jahren wird hier „Mülltrennung“ praktiziert. Am Abend stellt man seinen Mülleimer mit dem Restmüll vor die Tür und am morgen ist er geleert. Obst-, Gemüse- und Brotreste werden getrennt aufgehoben. Am Morgen kommen alte Männer mit Handkarren durch die Derbs und machen lautstark auf sich aufmerksam. So erkennt die Hausfrau am Ruf des Sammlers wer vor der Türe steht und übergibt ihm die Brotreste oder Gemüseabfälle, die dieser wiederum an seine eigenen Schafe oder Hühner verfüttert, die häufig noch in den Häusern der Ärmerem Bewohner leben. Die Frau erhält zum Ausgleich dafür eine Handvoll Spülmittel oder Waschpulver. So „entsorgt“ sich die Stadt täglich selbst.

Früher lebten über 500000 Menschen innerhalb der Stadtmauern. Heute sind es noch etwa 350.000. Und hier liegt auch ein Problem. Wer es sich leisten kann gibt sein Haus in der Medina auf und zieht lieber in die Vorstädte mit ihren hässlichen Wohnblocks, die ohne Klimaanlagen im Sommer (es kann bis zu 50Grad heiß werden) kaum bewohnbar sind. Hier sind die Infrastruktur und der Zugang besser. Wer in der Medina bleibt ist also eher der unteren sozialen Schicht zuzuordnen. Hier ist die Arbeitslosigkeit hoch, manche Viertel sind übervölkert und die Großfamilie ist an der Tagesordnung. Die von den Marrakschis verlassenen Riads werden häufig zu Spekulationsobjekten unzähliger Immobilienagenturen. Reiche Europäer erwerben sie, die oft nur wenige Wochen im Jahr in Marrakesch verbringen. Besonders in den bessern Vierteln ergibt sich so ein enormes soziales Gefälle zwischen extrem amen Marokkanern und sehr wohlhabenden Europäern. Vor diesem Hintergrund ist es leicht zu verstehen, dass man als Fremder häufig von Kindern oder Jugendlichen – bisweilen penetrant – angebettelt wird. Trotz allem: Die Marrakschis arrangieren sich mit dem Phänomen und zeigen sich meist friedlich und hilfsbereit .

Rings um die Medina herum ist in den vergangenen 100 Jahren ein modernes Marrakesch gewachsen: Auch hier gibt es ganz unterschiedliche Viertel. Der Boulevard Mohamed V verbindet die Medina mit dem Stadtteil Guiliz, der französisch geprägten Neustadt aus der Zeit des Protektorats (1912-1956). Hier gibt es hochmoderne Shoppingcenter, Kinos, den modernen Bahnhof, Clubs, Restaurants und Bürohäuser. Unverschleiert, westlich gekleidet und mit offene langen Haaren schlendern hier auch hübsche, selbstbewusste junge Marokkanerinnen, oft sogar Hand in Hand mit ihrem Freund – undenkbar in der Medina. Wer etwas auf sich hält und sich dem Jetset zurechnet bezieht sein Domizil in der „Hivernage“, einem mit viel Grün durchsetzen Wohngebiet zwischen Medina und Guiliz. Hier befinden sich auch die großen Luxushotels mit internationalem Standard, die Banken und Nobelclubs.

Marrakesch besitzt viele gut gepflegte wunderschöne Park – grüne Oasen in der „Roten Stadt“. Für Touristen interessant sind vor allem der Majorelle Garten mit dem Museum und der Villa von Yves Saint Laurent, der Anima Garten von André Heller (etwas außerhalb) und der Garten der Kotubia Moschee. Aber auch der Cyperpark am Boulevard Mohamed V mit seinem kostenlosen Wlan ist einen Besuch wert. Hier trifft sich Alt und jung, macht Siesta unter den alten Bäumen und chattet mit den Mobilephone. Schließlich liegt im Norden der Stadt noch der “Palmaire“, eine große Dattelpalmen-Oase, die jedoch heute wegen Wassermangels mehr und mehr vertrocknet. Hier befinden sich jedoch Luxusenklaven und Resorts mit Golfplätzen, Villen und Nightclubs, die es mit den exklusivsten und teuersten der Welt aufnehmen können.

So ist Marrakesch eine Stadt der Gegensätze, modern und mittelalterlich, dörflich und großstädtisch zugleich. Mehr als in anderen Städten Nordafrikas leben hier internationales Publikum, Berber und Araber in friedlicher, oft synergetischer Koexistenz.